Epigenetik und Übergewicht: Vererbung von Übergewicht durch Hunger und frühkindlichen Stress
Professor André Fischer stellt in der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft epigenetische Veränderungen vor, unter anderem am Beispiel des Erwerbs und der Vererbung von Übergewicht und Fettleibigkeit durch Hunger während der Schwangerschaft und durch frühkindlichen Stress. Thematisiert wird auch die Vererbung von frühkindlichen Stress und der daraus folgenden geringen Stresstoleranz und Resilienz im Erwachsenenalter über Generationen hinweg.
Merkmale eines Menschen, so auch die genetische Veranlagung dick zu werden und nicht leicht Schlank werden zu können, werden über die Gene vererbt. Darüber hinaus gibt es epigenetische Veränderungen, die im Laufe des Lebens die Wirksamkeit der eigenen Gene verändern.
Epigenetik – Anpassung der Gene an die Umweltsituation
Gene können je nach Bedarf – angepasst an die jeweilige Umweltsituation (die Verfügbarkeit von Nahrung ist eine solche Umweltsituation) – abgeschaltet und angeschaltet werden. Ebenso kann auch nach dem Ablesen der Gene die Produktion des in diesem Gen codierten Proteins noch verhindert werden.
Dies zeigen zum Beispiel Untersuchungen an eineiigen Zwillingen, die naturgemäß die fast exakt gleiche Genausstattung haben. Sind diese noch sehr jung, sind die Gene bei ihnen noch fast exakt im gleichen Zustand, es zeigt sich ein sehr ähnliches DNA-Methylierungsmuster. Dies ändert sich im fortgeschrittenen Alter, wo laut Spektrum der Wissenschaft erhebliche Abweichungen auftreten. Diese Abweichungen sind offenbar durch die unterschiedlichen Umwelteinflüsse, denen die Zwillinge ausgesetzt waren, entstanden.
Ein Beispiel dafür ist die Erkrankung an Alzheimerdemenz. Ein Zwilling litt an Alzheimer, der andere Zwilling nicht. Spektrum der Wissenschaft führt aus, dass sich die epigenetischen Besonderheiten, die zur Alzheimerdemenz führten, im Gehirn nachweisen ließen.
Hunger in der Schwangerschaft verursacht Neigung zu Übergewicht und Fettleibigkeit
Epigenetische Veränderungen der Gene können auch durch die Verfügbarkeit von Nahrung ausgelöst werden. Besteht eine Notsituation mit sehr wenig Nahrung, dann ist es für den Träger der Gene von Vorteil – ja überlebenswichtig – wenn er mit sehr wenig Nahrung auskommt, nicht viel essen muss und die Nahrung sehr effektiv nutzen kann.
Wenn wenig Nahrung vorhanden ist, ist die Neigung schnell dick zu werden, also einmal verfügbare Nahrung möglichst schnell und effektiv in den Fettreserven zu speichern von Vorteil. Genau dies kann durch die entsprechend den Umweltbedingungen veränderte Genexpression ermöglicht werden.
Steht dann wieder genügend Nahrung zur Verfügung, werden diese Menschen schneller stark Übergewichtig und haben große Probleme schlank zu werden oder schaffen es auch mit größten Anstrengungen nicht ihr Übergewicht abzubauen.
(Scheinbar findet der umgekehrte Prozess, eine Veränderung der Gene, um die Nahrung weniger effektiv zu verwerten nicht statt. Dies stellte in der Evolution der Menschen, die bis vor kurzer Zeit nie von Nahrungsüberschuss geprägt war, keinen Überlebensvorteil dar.)
Die Spektrum der Wissenschaft führt dafür das Beispiel des Hungerwinters von 1944 zu 1945 an. In den Niederlanden, wo die Hunger-Situation besonders schlimm war, untersuchten Forscher Menschen, deren Mütter während des Hungerwinters mit ihnen schwanger waren.
Bei den Kindern die nach einer Schwangerschaft im Hungerwinter geboren worden, zeigte sich eine Häufung von epigenetischen Veränderungen. Die in diesem Winter ausgetragenen Kinder waren deutlich kleiner, sie hatten als Erwachsene ein erhöhtes Risiko für Fettleibigkeit, also die Neigung zu Übergewicht, ebenfalls mehr Herz-Kreislauf-Probleme und mehr neuropsychiatrische Störungen.
Es wurde als mögliche Ursache eine veränderte DNA-Methylierung des Insulin-Wachstumsfaktors 2 – IGF 2 (Insulin Growth Factor 2) – festgestellt. Dieser Insulin-Wachstumsfaktor ist wichtig für die geistigen Fähigkeiten – kognitive Funktionen – und spielt laut Spektrum der Wissenschaft eine wesentliche Rolle bei Angststörungen. Die veränderte epigenetische Regulation des Insulin-Wachstumsfaktors 2 kann auch zur Entstehung von Alzheimer beitragen.
Diese epigenetische Veränderung des Insulin-Wachstumsfaktors 2 scheint ein Notprogramm zu sein, die das Überleben in der Frühzeit der Menschheit in Zeiten oder an Orten mit wenig Nahrung sicherte. Diese Veränderung ist aber nicht als Standard in die genetische Entwicklung des Menschen eingegangen, offenbar ist der ursprüngliche, unveränderte Zustand gesünder und besser für das Leben, die Fortpflanzungschancen und die Gesundheit des Menschen, bis er seine Kinder groß gezogen hat.
Dicke Kinder von schlanken Müttern durch Hungern und Diät in der Schwangerschaft?
Eine mögliche Frage daraus ist, inwieweit sich solche epigenetischen Veränderungen zur Neigung von Dicksein und Übergewicht auch durch Mütter ergeben, die in der Schwangerschaft zu wenig essen oder regelrecht Diät halten.
Man könnte sich fragen, ob das Hungern, eine Diät in der Schwangerschaft, um nach der Geburt des Kindes schnell wieder Schlank zu sein und einen flachen Bauch zu haben, eine mögliche Ursache für dicke Kinder von schlanken Müttern ist.
Stressreaktion, Stressresistenz kann über Generationen vererbt werden und damit Übergewicht und Fettleibigkeit
Die epigenetischen Veränderungen, wie der Körper und das Gehirn auf Stress reagieren, ob eine hohe Stressresistenz bzw. Resilienz vorliegt, oder ob im Gegenteil die Stressantwort auf Stressauslöser sehr heftig ausfällt, können auch vererbt werden – über Generationen hinweg.
Kinder, die frühkindlichen Stress ausgesetzt waren, haben im Erwachsenenalter häufig eine geringe Stresstoleranz – Resilienz -, die Stressantwort und die kognitiven Funktionen sind beeinträchtigt. (Siehe dazu auch Psychologie Heute 2013.) Die Anfälligkeit für Stress führt auch häufig zu Übergewicht und Fettleibigkeit.
Diese Veränderung der Stresstoleranz wirkt nicht nur auf die direkt betroffenen Kinder, sondern die epigenetische Veränderung kann auch auf deren Kindern weitervererbt werden. Ein so entstehendes erhöhtes Risiko für depressives Verhalten ließ sich laut Spektrum der Wissenschaft bis in die dritte Generation nachweisen.
Die Weitervererbung der Auslesung, der Nutzung der unveränderten Gene, die für die Stressantwort zuständig sind, erfolgt, indem nicht nur die Methylierung der dafür zuständigen Gene im Gehirn, sondern auch die der Gene in den Keimzellen verändert werden.
Diese epigenetische Veränderung, die direkt die Stresstoleranz und Resilienz und damit indirekt die Neigung zu Übergewicht bestimmt, wird über Generationen hinweg vererbt. Diese Vererbung schwächt sich aber ab und ist nicht dauerhaft, da sie nur das Auslesen und die Nutzung der an sich unveränderten Gene betrifft.
Epigenetische Prozesse
Die epigenetischen Prozesse und Mechanismen lassen sich laut Professor André Fischer in drei wesentliche Mechanismen unterteilen:
- Histone, welche mit der DNA im Komplex vorliegen, bestimmen mit darüber, ob ein bestimmtes Gen zur Proteinsynthese abgelesen werden kann.
- Das Ablesen der DNA kann an ihren bestimmenten Basen, den Cytosinen, mit einer Methylgruppe erschwert werden – DNA-Methylisierung.
- Die RNA – Ribonukleinsäure – kann nach dem Ablesen der Gene die genetischen Informationen noch blockieren.
Literatur:
- Spektrum der Wissenschaft: “Die Epigenetik neurodegenerativer Erkrankungen”, von Professor André Fischer, Heft Juli 2013, Seiten 30 – 38.
André Fischer ist Professor für Epigenetik und Neurodegenerative Erkrankungen an der Universitätsmedizin Göttingen und am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).
Diplom-Betriebswirt (FH) André Fiebig